Eine Reise im Advent

Leseprobe


4. Dezember

Mein Weg führte mich in die Stadt Kellmar. Diese Kleinstadt, das wusste ich, verfügte über eine Jugendherberge, in der ich für wenig Geld übernachten konnte. Doch bevor ich mich dort niederlassen würde, musste ich die Stadt durchqueren. Es wurde bereits Abend als ich ankam. Die Stadt war weihnachtlich geschmückt. Auf dem Weihnachtsmarkt vor der Stadtkirche roch es nach Puffer und Zuckerwatte. In den Verkaufsständen brachte der Wind kleine Glöckchen zum Klingen. Das Karussell mit seiner Feuerwehr und dem Motorrad machte so laut Musik, dass es nicht zu überhören war. Kinder zogen ihre Eltern am Ärmel, damit sie mit ihnen dorthin gingen. An den Glühweinständen hatten sich Erwachsene zu einer Afterworkparty versammelt. Manche hatten sichtlich bereits mehr als ein Glas Glühwein getrunken. Auf dem Gehweg hetzten die Menschen mit großen, mit Sternen bedruckten Einkaufstüten vorbei. Es war ein ständiges Gemurmel, manchmal auch Geschrei, ein Wirrwarr aus Sprache und Musik.  

In einer Ecke, etwas abseits des Marktes, stand ein Mann vor einem Geschäft und spielte auf einer Geige. Seine Jacke war alt und die Fingerhandschuhe, die er trug, waren zerschlissen. Die Melodie, die er spielte, war wie aus einer anderen Zeit. Ich kannte sie nicht, aber sie war schön und berührte mich. Ich hatte das Gefühl, dass es ein Weihnachtslied war, das er spielte – so sanft und besinnlich.  Aus einiger Entfernung beobachtete ich ihn. Sein Gesichtsausdruck war den Menschen freundlich zugewandt. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen. Vor ihm lag sein geöffneter Geigenkoffer. Ich sah, dass die Vorbeigehenden etwas hineinwarfen und freute mich.  Wenigstens wird sein Talent gewürdigt und belohnt, so dachte ich. Ich stellte mir vor, wie dieser Mann am Abend nach Haus kommen würde, zu einer Frau und mehreren Kindern, die ihn freudig empfingen, um gemeinsam mit ihm zu Abend zu essen und denen er stolz seinen Verdienst präsentieren konnte. Ich sah ihn in seinen Pantoffeln und vor dem warmen Ofen seine Hände wärmen, während seine Frau ihm den heißen Tee reichte. Danach würde er seiner Familie noch einmal auf der Geige dieses schöne Lied, das wohl ein Weihnachtslied war, vorspielen, und die Kinder würden müde aber glücklich ins Bett gehen und zu Gott beten, um ihm zu danken.  

 

Noch in Gedanken versunken, ließ ich meinen Blick schweifen. In der Nähe stand eine Gruppe junger Leute. Sie unterhielten sich angeregt und blickten in Richtung des Geigers. Einer zeigte mit dem Finger auf ihn, dann ging alles ganz schnell. Sie liefen auf den Geiger zu. Ein Junge baute sich direkt vor ihm auf, zwei weitere kippten den Geigenkoffer aus und ein vierter fing das Geld, das herausrollte, in einer Tasche auf. So schnell wie sie gekommen waren, waren sie wieder weg. Ich war so perplex, dass ich mich nicht rühren konnte. Der Geigenspieler sah auf seinen leeren Koffer, dann sah er auf die Menschen an den Ständen, schließlich erblickte er mich. Wir sahen uns eine Weile an. Schließlich zuckte er mit den Schultern, legte seine Geige wieder an die Wange und spielte sie wieder – diese schöne Melodie, die wohl ein Weihnachtslied war.